Die Perspektive der „Extremismustheorie“ hilft nicht im Kampf gegen Neonazis und Rassismus
Statement der Antifa UNited zur Diskussion über das Programm der Volkshochschule Kamen-Bönen
In den vergangenen Wochen entwickelte sich in Kamen eine öffentliche Diskussion über den Semester-Schwerpunkt zum Thema ‘Rechtsextremismus’ der VHS Kamen-Bönen. In dem kürzlich veröffentlichten Programm der Volkshochschule findet sich eine breit angelegte Vortragsreihe, die neun Vorträge umfasst und mit der der Versuch unternommen werden soll, über die verschiedenen Ausprägungen extrem rechter Ideologie und extrem rechter Organisationsformen zu informieren. Dieser Schwerpunkt wurde, wie dem Vorwort der VHS-Broschüre zu entnehmen ist, bewusst gesetzt: „aus aktuellen Anlässen“. Gemeint ist damit der Anstieg neonazistischer Aktivitäten im gesamten Kreis Unna, speziell aber wohl der Nazi-Angriff auf das GAL-Zentrum im März 2010 in Kamen und die rechten Aktivitäten in Bönen.
Nicht nur mit Blick auf die aktuelle Situation und die jüngsten Ereignisse erscheint uns dieses Anliegen der VHS begrüßenswert. Generell sehen wir eine umfassende Aufklärung über extrem rechte ‘Theorie’ und Praxis als Grundvoraussetzung für ein effektives Agieren gegen rechte Tendenzen.
FDP-Kampagne gegen die VHS
Jedoch äußerte der Stadtverband der FDP kurz nach der Bekanntgabe des Programms harsche Kritik an dem von der VHS gewählten Schwerpunkt. Dies verwundert vor allem deswegen, weil gerade die FDP, im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien, in den letzten Jahr weder durch besonderes Engagement gegen die neonazistischen Aktivitäten noch durch Sachverstand zum Thema aufgefallen ist. Besonders der Kamener FDP-Vorsitzende David Thomas Karnas griff die VHS-Leitung an. Er kritisierte, dass der Schwerpunkt „den ganzheitlichen Ansatz“ – was immer das genau auch ist – vermissen lasse. So gehört Karnas zufolge zur Aufklärung über ‘Rechtsextremismus’ auch zwingend eine Beschäftigung mit ‘Linksextremismus’ – gar als ob das eine ohne das andere nicht erklärt werden könne. In der jetzigen Ausrichtung könnte das VHS-Programm den Anschein erwecken, auf dem „linken Auge blind zu sein“, so Karnas weiter.
Auch in Unna brachte der Stadtverband der FDP einen ähnlichen Einwand hervor, der sich auf das Programm der VHS Unna-Fröndenberg-Holzwickede bezog. So gibt es in deren Semesterprogramm zwar keinen Schwerpunkt Rechtsextremismus und keine breit angelegte Vortragsreihe zu diesem Thema. „Politisch fixiert“ – so entlarvt es die FDP als Rächerin der ‘wehrhaften’ Demokratie – sei das Programm trotzdem. Deshalb formuliert ihr Vorsitzender Martin Bick auch die Frage aller Fragen: „Wo bleibt die Auseinandersetzung mit einem auch bei uns vor Ort immer stärker ausufernden Linksextremismus?“
Dieser Auffassung der FDP widersprachen – zumindest in Kamen – in den darauf folgenden Tagen sowohl Vertreter_innen der VHS als auch der ortsansässigen SPD. Vorgebracht wurden die Einschätzungen und Beobachtungen des Verfassungsschutzes, denen zufolge von ‘Rechtsextremen’ schlichtweg eine größere Gefahr ausgeht. Dieses Argument ist zwar an sich stichhaltig, die Argumentation als Ganzes erscheint uns jedoch in dieser Form verkürzt. So wird dieses Argument zwar aufgrund zeitlicher und örtlicher Gegebenheiten (“Rechte sind nun mal zurzeit im Kreis Unna gefährlicher”) für eine Parteinahme gegen ‘Rechtsextremismus’ ausgelegt und der FDP entgegengehalten. Das Abwiegen von ‘linker’ und ‘rechter’ Gewalt – als ob man beides ohne weiteres vergleichen könnte – bleibt aber bestehen.
Wir wollen deshalb die von der FPD bemühte und vom Verfassungsschutz vertretene „Extremismustheorie“ einer grundlegenden Kritik unterziehen. Denn das Gerede vom „Extremismus“ führt dazu, dass die Problematik rassistischer, antisemitischer und autoritärer Einstellungen und Verhaltensweisen nicht erfasst wird. Vielmehr sollen damit linke Gesellschaftskritik und Antifaschismus diffamiert werden.
Wozu dient die „Extremismustheorie“?
Der Extremismusbegriff hat seinen Ursprung in den 1920er Jahren in Italien, als dort die so genannte Totalitarismus-Theorie als Schöpfung der italienischen Liberalen entstand. Die Totalitarismus-Theorie sollte dazu dienen, Faschismus und Sozialismus (heute: Rechtsextremismus/Linksextremismus) anhand vermeintlicher Parallelen gleich zu setzen. Im Kalten Krieg diente der Totalitarismusbegriff dann der Gleichsetzung von Faschismus und den real-sozialistischen Staaten des Ostblocks. Nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelten dann konservative Politikwissenschaftler die „Extremismustheorie“. Der eigentliche Zweck des Ganzen ist es – damals wie heute – die so genannten „Feinde der Demokratie“ in einer Form gleich zu setzen, die sie politisch handlungsunfähig machen soll und an einen politischen Rand drängt. Die „Demokratie“ und die „gesellschaftliche Mitte“ sollen gleichzeitig vor Kritik in Schutz genommen werden. Mit Hilfe eines „Hufeisenmodells“ behauptet die „Extremismustheorie“ nämlich allen Ernstes, dass sich die „Extreme“ an den „Rändern“ näher kämen, während sie beide gleich weit von der „demokratischen Mitte“ entfernt seien.
Dass sich die „Extremismustheorie“ trotz inhaltlicher Kritik von Seiten der Fachwissenschaft durchsetzen konnte, lag daran, dass die im Sinne der „Extremismustheorie“ argumentierenden Politikwissenschaftler_innen einen mächtigen Verbündeten haben: den Verfassungsschutz. Der deutsche Inlandsgeheimdienst bedient sich des gleichen Vokabulars in seinen jährlichen Berichten. Neben „Links- und Rechtsextremismus“ kennen die Geheimdienstler noch die dümmliche Kategorie des „Ausländerextremismus“.
Die angebrachten Argumente sind dabei allerdings wenig stichhaltig. So wird versucht an mehreren Punkten die politische Nähe von grundsätzlich unterschiedlichen politischen Überzeugungen zu suggerieren. Zum Beispiel wird behauptet, dass sich beide Richtungen als „sozial“ bezeichnen oder sich „Sozialisten“ verstehen. Dabei wird die grundsätzlich anders geartete Ausrichtung der Begriffe bewusst übergangen. Die Begriffe werden aus ihrem jeweiligen ideengeschichtlichen Kontext gelöst. Nur so lassen sie sich einebnen und unter dem Begriff des „Extremismus“ subsumieren. Das der linke Begriff des Sozialismus – unter anderem – auf die Emanzipation aller Menschen von den Zwängen des Kapitalismus zielt, während sich der nazistische Sozialismusbegriff im barbarischen Mythos von Volk und Rasse verstrickt, um die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu verewigen, erscheint angesichts des betriebenen Reduktionismus als bloße Marginalität.
Ein weiteres Argument der Vertreter_innen der „Extremismustheorie“ ist, dass sowohl die ‘Rechtsextremen’ als auch die ‘Linksextremen’ Gewalt als legitimes Mittel erachten würden, um politische Ziele zu erreichen. Nicht nur, dass hier so getan wird, als würde Gewalt ausschließlich von Gruppen der gesellschaftlichen Ränder ausgeübt, was natürlich absoluter Unsinn ist, wie ein kurzer Blick auf den hochgerüsteten staatlichen Gewaltapparat zeigt, der genau dazu benutzt wird, was den „Extremisten“ vorgeworfen wird: Er dient der Durchsetzung politischer Ziele auch gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung. (siehe: Stuttgart 21, Castortransporte, Naziaufmärsche)
Bei den Neonazis ist die Gewalt zudem im Weltbild angelegt. Sie richtet sich gegen alle Andersdenkenden und zu „Nicht-Deutschen“ und „Feinden der Volksgemeinschaft“ erklärten Menschen. Sie richtet sich meist gegen gesellschaftliche Minderheiten und Schwächere, ihre Brutalität ist bezeichnend. Die Neonazi-Gewalt zielt potentiell auf die Vernichtung ihrer Opfer. Wer Formen antifaschistischer Selbstverteidigung und Gegenwehr damit gleichsetzt, verharmlost die Neonazi-Gewalt und fordert indirekt, dass sich deren Opfer wehrlos den Neonazis ausliefern sollen. Wer von „Gewalttätigkeiten rivalisierenden Jugendgruppen“ oder „Links-Rechts-Auseinandersetzungen“ spricht, verschweigt, dass die Gewalt von den Neonazis ausgeht und durch ihre Ideologie verursacht wird. Hätten die zehn angegriffenen Antifaschist_innen sich nicht zur Wehr setzen sollen, als sie von 40 Neonazis vor dem GAL-Zentrum attackiert wurden?
Blinde Flecken
Die Funktion des Extremismusbegriffs offenbart sich schließlich, wenn man den Blick auf jene Spektren wirft, die von dem postulierten Gegensatz ‘Mitte-Extremismus’ nicht erfasst werden. So verschleiert der Begriff Übergänge und Zusammenhänge zwischen der selbst erklärten ‘Mitte’ und Erscheinungen am rechten Rand der Gesellschaft. Die rassistischen Äußerungen des ehemaligen Bundesbankers und SPD-Politikers Thilo Sarrazin können mit der „Extremismustheorie“ nicht als „rechtsextrem“ bezeichnet werden, schließlich bekennt sich Sarrazin zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, versteht sich als Vertreter der Mitte und ist Mitglied einer demokratischen Partei. Ist Sarrazin deswegen vor Kritik sicher, selbst wenn seine Positionen in Teilen denen der NPD auffallend ähneln?
Überhaupt verliert, wer mit dem Extremismusbegriff argumentiert, alle gesellschaftlichen Gruppen und Milieus aus dem Auge, die nicht den „extremistischen Rändern“ zugeordnet werden. Doch haben gerade sozialwissenschaftliche Untersuchungen in den vergangenen 20 Jahren immer wieder gezeigt, dass der Rassismus „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommt. Wenn 31,3 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Untersuchung der Aussage zustimmen, „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ [1], dann wird deutlich, dass wer nur vom „extremistischen Rand“ redet, das Problem verharmlost.
Außerdem werden vor allem rechts-konservative Strömungen mit den Begriffen der „Extremismustheorie“ nicht erfasst. Ist eine Zeitung wie die ‘Junge Freiheit’, die sich seit Jahren leider durchaus erfolgreich bemüht, Schnittstellen zwischen radikaler Rechter und etabliertem Konservativismus aufzubauen und für eine autoritäre und rassistische Gesellschaft wirbt, kein Problem mehr, sobald sie nicht mehr im Verfassungsschutzbericht aufgeführt wird? [2]
Auch werden historische Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Faschismus verwischt. So war in den 1920er und 1930er besonders das kapitalistische Bürgertum Träger der faschistischen Ideologie. Erst das Bündnis der konservativen Elite mit der NSDAP schuf überhaupt die Möglichkeit der faschistischen „Machtergreifung“. Diese Zusammenhänge lassen sich mit der Extremismusperspektive nicht erfassen und schon gar nicht erklären.
Das alles ist aber auch gar nicht die Intention der Extremismustheoretiker_innen. Vielmehr riegelt sich die selbst ernannte Mitte die politische Sphäre auf eine Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse [3] hin ab und entzieht sich zugleich ihrer historischen Verantwortung. Die unreflektierte Übernahme der Terminologie des Verfassungsschutzes in öffentlichen Diskursen erhält und verfestigt zudem die Problematik dieser Perspektive. Radikal rechte und rassistische Einstellungen sind für uns eben keine Randphänomen der Gesellschaft, das von dieser selbst isoliert betrachtet werden kann, sondern sie entspringen vielmehr der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft und werden durch sie fortwährend reproduziert.
Antifa UNited im Februar 2011
Anmerkungen:
[1] Oliver Decker/Elmar Brähler: Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008. mit einem Vergleich von 2002 bis 2008 und der Bundesländer, Friedrich-Ebert-Stiftung Forum Berlin, S. 20
[2] Die ‘Junge Freiheit’ hat gegen ihre Aufführung im Verfassungsschutzbericht erfolgreich vor Gericht geklagt. Ihre politischen Inhalten hat sie indes nicht geändert.
[3] Die natürlich auf einer Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise fußen muss, wie sie im Rahmen radikal linker Theorie formuliert wird. Das es sich – um die ‘rechtsextreme’ Seite zu betrachten – bei einer faschistischen ‘Revolution’ um eine wirkliche Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse handeln würde, ist doch arg zu bezweifeln. Eher deutet sie auf eine Zementierung der bestehenden ökonomischen Machtverhältnisse hin. So wird “aus der Unterordnung unter das Seiende die Liebe zum Schicksal” (Adorno, Theodor W.: “Spengler nach dem Untergang”; In: Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft. 1969), die sich im völkischen Mythos nur allzu gut offenbart.
Weiterlesen:
ALB (Hrsg.): Total extrem! Die (neue) Funktion der Totalitarismus- und Extremismusideologien, 2010, Download: http://www.antifa.de/cms/component/option,com_docman/task,doc_download/gid,168/Itemid,34/
LOTTA, Nr. 33, Winter 2008/2009, Schwerpunkt-Artikel: Das Spiel mit der Extremismus-Formel. Legitimationsideologie für den autoritären Staat, Download: http://projekte.free.de/lotta/pdf/33/extremismusformel.pdf
Wolfgang Wippermann: Politologentrug. Ideologiekritik der Extremismus-Legende. Standpunkte 10/2010, Download: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_10-2010.pdf