Rede der Antifa Kamen zum 10.04.2005

Rede der Antifa Kamen, gehalten auf der Gedenkkundgebung zum 60. Jahrestag der Befreiung Kamens am 10. April 2005

Hallo liebe Freundinnen und Freunde,

60 Jahre sind seit der Befreiung vom Faschismus vergangen – eine lange Zeit. Mit dem Sterben der Zeitzeugengeneration wird diese Vergangenheit endgültig zur Geschichte. Einem Aspekt, wie mit dieser Vergangenheit heute umgegangen wird, möchte ich jetzt kurz ausführen. Auf unserem Transparent haben wir diesen Aspekt “deutsche Opfermythen” genannt. Was “Opfermythen” ausmacht und welche Funktion sie haben, dazu nun mehr.

Anders als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wird die nationalsozialistische Vergangenheit und die ungeheuerlichen Verbrechen, die mit ihr verbunden sind, nicht mehr verdrängt. Über den Nationalsozialismus wird viel gesprochen – gerade zu Jahrestagen. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen neben den Opfern vor allem Hitler und die nationalsozialistische Elite. Bei der Frage nach der Rolle der “ganz normalen deutschen” Bevölkerung hat sich nun auch öffentlich eine Betrachtungsweise durchgesetzt, die schon immer das Selbstbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft geprägt hat: Die Deutschen gelten als die von Hitler Verführten, Unterdrückten und von einer (Mit)Schuld weitgehend befreiten. Und sie werden vor allem als die Leidtragenden des Krieges gesehen.

Nachdem Mitte der Neunziger Jahre durch die sog. Wehrmachtsausstellung und Daniel J. Goldhagens Buch “Hitlers willige Vollstrecker” die Frage der Täterschaft und Schuld der deutschen Bevölkerung öffentlich diskutiert wurde, werden die Deutschen nun vor allem als Opfer gesehen. Kaum ein Thema, das sich nicht dazu eignet wurde bislang ausgelassen. Besonders deutlich wurde dies in der Bewertung der alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte und bei der Umsiedlung und Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten. In diesem Jahr rückten vor allem die letzten Tage und Wochen des NS-Regimes ins öffentliche Interesse – auch hier ist das gleiche zu verzeichnen.

Es hat sich eine Betrachtungsweise durchgesetzt, die sich auf das Leid konzentriert, welches Deutsche im Krieg erfahren haben. Dabei wird der historische Kontext oftmals fast vollkommen ausgeblendet – die Ursachen, die z.B. die Bombardierungen deutscher Städte zur Folge hatten werden bewusst verschwiegen. Doch ist eine Betrachtung des Zweiten Weltkrieges ohne die industrielle Massenvernichtung – die Shoah und den von Deutschland praktizierten Vernichtungskrieg für den “Lebensraum im Osten” – wie es bei den Nazis hieß – nicht möglich.

Eine Geschichtsschreibung, die menschliches Leid in den Mittelpunkt stellt, ist insofern unbrauchbar, als dass menschliches Leid immer zu bedauern ist. Aber was sagt uns dies über Geschichte? Wie kann das helfen den Nationalsozialismus zu erklären? Wie kann das helfen, dass sich Ähnliches nicht noch einmal wiederhole?
In der heutigen Debatte erfüllt die Betonung des Leids, in erster Linie “deutschen” Leides, einen anderen Zweck: Die Entlastung der TäterInnen von einer (Mit)Schuld und den Aufbau einer “deutschen Opfergeschichtsschreibung”, die eine weitgehend ungebrochene nationale Identität ermöglicht.

Dort wo sich zu einer Annerkennung von Schuld der deutschen Bevölkerung durchgerungen werden kann wird diese relativiert, indem sie dem eigenen erfahrenen Leid gegenübergestellt wird. Alle haben irgendwie gelitten, alle haben sich irgendwie schuldig gemacht. Alle waren ein bisschen Opfer, alle waren ein bisschen Täter. Zurück bleibt eine Geschichte, die im Grauschleier unterzugehen droht. Eine Geschichte, die es ermöglicht, dass Deutschland wieder ungestört als Identifikationsobjekt benutzt werden kann.

Wenn ihr euch Beiträge dieser Debatten anschaut, dann werdet ihr oftmals feststellen, dass dort Positionen vertreten werden, die nicht immer weit von denen der extremen Rechten entfernt sind.
Beispiel Jörg Friedrich. Dessen Buch “Der Brand” löste die mediale Debatte um alliierte Bombardierungen aus. Während Jörg Friedrich in seinem Buch von “Krematorien” und “Gaskammern” spricht, und damit deutsche Luftschutzbunker meint oder die Bomber der Royal Air Force “Einsatzgruppen” nennt, spricht die NPD einfach vom “Bombenholocaust”. Sprachlich sind beide nicht weit von einander entfernt. Beide benutzen ein Vokabular, das untrennbar mit der Shoah verbunden ist – und deshalb eine nerträgliche Relativierung darstellt. Eine Verhöhnung der Opfer außerdem.

Diese geschichtsrevisionistischen Debatten mit ihrer Konzentration auf “deutsche Opferrollen” und die Geschichtspolitik der Regierung müssen Gegenstand antifaschistischer Kritik sein. Deutlich müssen hier deutsche Opferdarstellungen, erst recht wenn sie ohne ihre historischen Bedingungen und Ursachen dargestellt werden, zurückgewiesen werden. Auch 60 Jahre danach müssen wir an den Faschismus und seine Verbrechen erinnern. Gedenken und Erinnern sollte sich aber nicht in der Teilnahme an einem ritualisierten Gedenken mit Blick auf die Außenwirkung des Standorts erschöpfen, nichts anderes sind nämlich viele Gedenkveranstaltungen, sondern ein kritisches Erinnern sein, welches stets nach der Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Gegenwart fragt. Ein Erinnern, das die Ursachen des Nationalsozialismus in den Blick nimmt und dessen Motivation daher kommt, alles zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholen kann. Die jetzigen Generationen tragen keine Schuld am Nationalsozialismus, aber sie haben die Verantwortung einen erneuten Faschismus zu verhindern.